Die Kraft der Stille
„Die Musik steckt nicht in den Noten. Sondern in der Stille dazwischen.“ W. A. Mozart
Schon vor Urzeiten suchten Menschen die Stille, um die innere Stimme besser zu hören, um mit der Geisterwelt, um mit Gott in Kontakt zu treten. Wo finden wir Stille? Wir finden sie in der Einsamkeit, im Alleinsein, dann sind wir mit dem All eins. Doch das ist für die meisten Menschen bedrückend, wenn nicht sogar beängstigend.
Einmal bin ich mit einer Gruppe von Schülern im Alter von 13 – 14 Jahren auf eine Wiese gegangen, nicht weit von der Schule, jedoch von Wald umgeben. Für Schüler, Mädchen wie Jungen in dem Alter, fällt eine Übung besonders schwer, wie ich sie ihnen aufgab. Sie sollten mit etwas Abstand zueinander, etwa fünf Meter, die Augen schließen, auf die Geräusche der Umgebung lauschen und danach beschreiben. Sie konnten teilweise nur wenigen Sekunden die Augen geschlossen halten und vergewisserten sich, dass sie noch nicht allein sind. Einige kicherten, schweigen fiel ebenfalls sehr schwer. Ihr Unbehagen war deutlich. Die Stille im Äußeren wurde von der Unruhe im Innern stets übertönt.
Für Blinde ist die Welt des Lauschens nichts Neues. Es ist ihre Welt. Sie sehen gewissermaßen mit den Ohren und tasten sich durch die Welt des Raumes. Wie still müssen sie in ihrem Innern sein, damit sie die Töne des Äußeren adäquat hören können?
Die innere Stimme brauchen wir für die Sinnsuche unseres Daseins. Denn hier erfahren wir, wer wir sind, was wir auf dieser Erde tun und noch zu tun gedenken. Wir lassen Vergangenes Revue passieren, um es zu bewerten. Wir schließen die Augen, um auf unser Inneres besser hören zu können, um unsere Leiblichkeit in Gänze zu spüren. Wenigen gelingt es dabei, auch die Wahrnehmung des äußeren Hörens abzuschalten, also die Stille selbst zu erzeugen. Sie versenken sich ganz in ihre innere Stimme. Dann sind sie Allein.
Wie schwierig es ist, in der lauten und geschäftigen Welt einer Stadt allein sein zu können, beschreibe ich mal mit einem Erlebnis, das ich hatte. Zum Einkaufen war ich gerade in einem Supermarkt. Draußen begann ein ungeheures Unwetter, bei dem ein nahe gelegener Friedhof verwüstet wurde. Ich trat in den Eingang und das Prasseln des starken Regens, das Tosen des Windes, das Donnergrollen, alles wurde durch den Straßenlärm noch übertönt. Dieser Straßenlärm versinnbildlicht geradezu, wie wir als Stadtmenschen von den Naturgewalten, von der Natur überhaupt und somit auch von unserer inneren Stimme abgekoppelt sind. Einzig die Aussicht auf Durchnässen bei einem solchen Regen hält uns noch im Bann der Elemente. Im Eingang des Supermarktes ist auch das nur ein Schauspiel. Ich schloss die Augen und spürte, wie Unwetter und Straßenlärm um Bedeutung wetteiferten.
Das Leben in und mit der Natur ist hart, mühsam und gefährlich. Menschen werden von der Natur „verzehrt“. Doch heute ist sie dem modernen Menschen keine Mühe mehr. Alles wird von vielen klugen Köpfen und fleißigen Händen mit Hilfe von Maschinen so hergerichtet, dass wir ein mehr oder minder sicheres und bequemes Leben haben können. Die Menschheit der „zivilisierten Welt“ hat die Natur bezwungen. Die Natur ist vielmehr ein Objekt geworden, das vor der Macht der Menschen zu schützen ist. Nun hat die Menschheit eine neue Aufgabe bekommen, nämlich sich selbst zu bezwingen. Da gibt es allerlei Ideen von z.B. sozialen Gesetzen über die Wissenschaften bis hin zu Robotern als Ersatzmenschen. Eines jedoch haben die Menschen noch nicht herausgefunden – bis auf einige. Es ist die Selbstzucht, die möglich wird mit dem Lauschen nach innen, mit der Stille, die es ermöglicht, die innere Stimme, die geistige Welt oder Gott zu hören. Den Menschen bezwingen bedeutet Stille genießen, das Wesentliche erkennen und ganzheitliche Gedanken ausrichten. Das gibt uns Kraft für das, was kommen mag. Das macht uns frei.
Alexander Droste