ZUKUNFTSWERKSTATT
Sylvain Coiplet 8.8.2024 Ulrike Stein Teil 1

Gespräch mit Sylvain Coiplet im Institut für Soziale Dreigliederung Berlin

8. August 2024

https://www.dreigliederung.de/institut
https://www.dreigliederung.de/profile/sylvain-coiplet

https://www.dreigliederung.de/publish/grundfragen-der-sozialen-dreigliederung

Teil 2

Ich muss die Dreigliederung vor ihnen in Schutz nehmen.
Sylvain Coiplet über sein Wirken

Sie müssen es lernen, aus ihren Leuten heraus zu arbeiten.
Sie müssen erhorchen, was ihnen aus den Mitgliedern entgegenkommt,
was da nötig ist.
Wenn Sie das können, wenn Sie dann wirklich aus dem innerlich lebendig Esoterischen heraussprechen oder lesen, dann werden Sie zu allen sprechen.
Dann wird jeder zu dem Seinigen kommen, einerlei ob alt oder jung, gebildet oder nicht gebildet. Jeder wird mitnehmen, was er braucht und womit er leben und arbeiten kann.

Rudolf Steiner zu Adelheid Petersen geb. von Sybel

„Ich kannte damals viele Deutsche, aber es war auch ein bisschen international, und da konnte man grade gut den Unterschied zwischen den Deutschen und den anderen spüren: das Individualistische als Ideal. Das war für die anderen ein bisschen schwierig, denn sie waren mehr mit dem verbunden, was sie mitbringen. Da konnte man immer wieder spüren, wie die Leute sich aneinander reiben.“

„Durch diese Reibung entsteht etwas.“

„Ja.“

„Ohne diese Reibung würde es nicht entstehen.“

„Ja.“

„Da war ein Du mit dabei. Vorher warst du es mit den vielen Menschen und Themen drumherum, mit denen du dich verbunden hast und aus denen du was genommen hast.
Bei der Reibung passiert etwas anderes: Da sind zwei zusammen und reiben sich, es entstehen Wärme und vielleicht auch irgendwann eine Perle. Das ist eine andere Art des Lernens und Wachsens.“

„Und in dem Moment, als ich in Deutschland war, kam ich zur Dreigliederung. Vorher habe ich nachgeholt, was ich an der Schule nicht haben konnte: Eurhythmie, projektive Geometrie.
Ich habe das abends mit den Mathematikern, die tagsüber in der Uni waren und abends den anthroposophischen Teil machten, nachgeholt. Das war Nachholen von dem, was ich gern alles gelernt hätte. Und ab dem Tag, an dem die Mauer gefallen ist, war es für mich nicht mehr vertretbar, dass ich was für mich mache. Solange die Welt für mich in Ordnung war, konnte ich mich darauf konzentrieren, das nachzuholen. Das Soziale hatte mich vorher schon stark beschäftigt, aber in der ganzen Zeit, in der ich mich mit Anthroposophie beschäftigte, war das sehr im Hintergrund. Wenn ich die zwei Jahre von 1987 bis 1989 nicht gehabt hätte, hätte wirklich was gefehlt.“

„Das erfordert auch tiefes Eintauchen, Hingabe und Geduld. Manches kann man nur kultivieren, wenn man wirklich allein ist. Das ist nicht nicht-sozial. Es fließt schon den anderen zu.“

„Ich habe da Kraft für mein Leben geholt. Das hat Sachen für mich sicher gemacht. Es ging mir um die Konsonanten – die gibt es im Französischen nicht in dem Maße – die wollte ich verstehen. Das war der Grund, warum ich Eurhythmie studiert habe. Gerade im zweiten Jahr habe ich eine Lehrerin gehabt, die das konnte. Im ersten Jahr nicht. Damit habe ich gefunden, was ich gesucht habe. Damit war ich solide genug, sage ich mal. Aus dem Mitgefühl heraus habe ich nach dem Schlüsselloch gesucht, und das Gespür der Notlage 1989 spielte auch eine große Rolle dabei.“

„Ja … Wohin soll es gehen …“

„Ja. Aber es gab auch immer wieder Momente, in denen ich spürte, dass ich wieder Kraft tanken muss. Ich habe in Berlin zehn Jahre in der IT gearbeitet als Feuerwehr. Wenn irgendwo was nicht funktioniert hat, habe ich das Problem gelöst. Das habe ich gemacht, weil ich meine Familie finanzieren musste. Mit dem Arbeiten in der Dreigliederung hätte ich mich allein versorgen können, aber nicht unsere Familie. 2015 hatte ich genug Spenden, um mich wieder auf die Dreigliederung fokussieren zu können. Ich habe zunächst mehrere Stunden am Tag Kunst gemacht, um mich wieder zu stärken. Das heißt: Wenn ich spüre, dass ich nichts mehr zu geben habe, dann bringt es nichts, weiterzumachen. Ich habe Programmierung gelernt, damit ich die Website machen kann. Das war ab 1999.“

„Ah ja!? Das war das Motiv: Du hast es für die soziale Dreigliederung gelernt!“

„Ja. Das wusste meine Frau natürlich nicht.“ Sylvain lacht. „Sie hat gedacht, dass ich es lerne, um die Familie zu ernähren. Es wurde durch Mund-zu-Mund-Propaganda zu meinem Beruf. Ich hatte das überhaupt nicht eingeplant.“

„Das klingt nach Übergangsphase. Eigentlich ist dieses Modell zu leben und zu arbeiten gar nicht sozial dreigegliedert.“

„Nee, aber dadurch, dass ich selbständig war, konnte ich meinem Gewissen folgen. Das heißt: Ich habe nie Bedürfnisse geschaffen. Meine Priorität war immer: Wie können sie am besten selber zurechtkommen, und dadurch habe ich vier- bis fünfmal mehr Leute betreut als andere. Wenn man schon wirtschaftet, sollte man es nicht getrennt von der Dreigliederung tun. Es war aber keine Umsetzung in dem Sinne, dass ich viel ändern konnte. Ich konnte aber das ändern, was an mir liegt.“

„Insofern ist es schon ein Leben in Richtung soziale Dreigliederung, so wie es gerade geht.“

„In dem Bereich hat man Narrenfreiheit, weil die Leute gar nicht wissen können, was man da tut. Danach habe ich es gebraucht, wieder ein bisschen Kraft zu tanken. Das habe ich dann nicht mit Eurhythmie gemacht, sondern mit Malerei.“

„Das habe ich auf deiner Website gesehen.“

„2015 und 2016 habe ich es jeden Tag gemacht.“

„Das ist ein Ausgleich.“

„Ja. Deswegen: Etwas für andere zu tun, muss stimmen. Aber jetzt gleicht es sich durch die Aktivität selber aus: Ich habe einerseits die Forschung, andererseits die Seminare.“

„Bist du danach nicht erschöpft?“

„Drei bis vier Stunden bin ich hinüber, aber dann geht’s wieder. Denn die Seminare gehen über vier Tage und ich muss über diese vier Tage reden. Das mache ich etwa einmal im Monat.“

„Wenn du Seminare gibst, die dein Thema beinhalten, mit Menschen, die Interesse haben, ist ja die Ebene da, die du schon als Kind gespürt hast, und ob sie da ist oder nicht. Wie in der Schule, als du das Leiden der anderen Schüler fühltest, die in Wirklichkeit was ganz anderes machen wollten, und auf der anderen Seite echtes Interesse.“

„Genau.“

„Bei den meisten war sie nicht da. Ich stelle mir vor, dass dadurch diese vier Tage einen erheben und einem Kraft geben.“

„Die Leute bringen Interesse. Das brauche ich. Ich kann nicht vor Leuten sprechen, die das nicht mitbringen. Ich war mal eingeladen, ein Seminar an einer Hochschule zu geben, und ich habe es unter der Bedingung gemacht, dass die Teilnehmer keinen Schein dafür bekommen. Aber sie kamen über jemand anderen, also nicht aus eigenem Interesse. Das ist schiefgelaufen. Ich brauche also wirklich das Wollen und ich muss die Dreigliederung vor ihnen in Schutz nehmen, weil sie eigentlich nicht wissen, was damit gemeint ist.“

„Du musst die Idee von Steiner schützen.“

„Ja. Die ganze Zeit muss ich Wege finden, wie ich sie verständlich machen kann. Denn eigentlich wollen sie es nicht.“

„Auch die, die aus eigenem Entschluss kommen, wollen es irgendwo in sich nicht.“

„Sie wollen was anderes. Sie suchen Geist. Aber soziale Dreigliederung ist nicht Geist. Sie wollen im Sozialen etwas, das mit Geist zu tun hat.“

„Viele haben sich mit Steiner noch gar nicht so beschäftigt?“

„Das ist sehr unterschiedlich, läuft aber trotzdem auf dasselbe hinaus.“

„Das ist interessant, oder?! Dann bist du ja eigentlich parallel noch ein zweiter Lehrer für die Gruppe.“

„Ich muss es schaffen, sie für die beiden anderen Sachen zu interessieren. Sie haben die Haltung, dass das Geistige für sie das Ganze ist. Und alles, was sie von der Dreigliederung ergriffen haben, auch wenn sie es anders nennen, ist eigentlich nur Geistesleben.“

„Nur das haben sie ergriffen“, sage ich erstaunt und frage: „Was sind denn das für Leute, die da kommen?“

„Das sind die, die zur Anthroposophie gefunden haben, und da sucht man in der Regel nach dem Geist.“

„Das verstehe ich natürlich. Doch ich würde mich aus Eigeninitiative nicht in das Thema hineinarbeiten, weil ich es so schwer finde. Allein das Thema Rechtsleben finde ich schon sehr schwer und fremd. Und vor dem Thema Wirtschaftsleben stehe ich wie ein Ochs vorm Berge. Matthias zum Beispiel, den du gut kennst und der den Online-Kongress macht, hatte früher zusammen mit seiner Schwester drei riesige Gartencenter und stand unternehmerisch und was Pflanzen angeht, aber auch was das Monetäre angeht, mit beiden Beinen auf der Erde. Er kann mit dem, was uns am Leben erhält, umgehen. Ich kann das zum Beispiel gar nicht. Ich bin da Analphabetin. Deswegen würde ich mich scheuen, so ein Seminar zu besuchen, auch wenn mich die soziale Dreigliederung am Rande interessiert und ich über das Lektorat von Matthias‘ und Alex‘ Buch, was total viel Spaß gemacht hat, gerne etwas dazu gelernt habe. Ich sehe also darin eben nicht so viel Geistiges.“

„Du hast gesagt: das Unternehmerische, hm? Steiner rechnet das Unternehmerische nicht zum Wirtschaftsleben. Das Unternehmerische ist das, was der Einzelne sich aus den Fingern saugen kann, aus seiner Kreativität, und das ist für Steiner Geistesleben. Unter Wirtschaftsleben versteht er die Sachen, die man sich nicht selber aus den Fingern saugen kann. Viele bringen die Haltung mit: Man muss an sich selber arbeiten und dann läuft es weiter. Dann muss ich ihnen klarmachen, dass es in der Dreigliederung im Wirtschaftsleben gar nicht darum geht. Beim Wirtschaftsleben und beim Rechtsleben kommen Sachen dazu, die der Einzelne nicht kann. Die Qualität der unternehmerischen Tätigkeit selber ist geistig, aber es wirkt sich auf das Wirtschaftsleben aus.“

„Auch wenn er Autos baut, ist es geistig.“

„Ja.“

„Und alles, wo man den anderen Menschen mit braucht, was man nicht allein herstellen kann, das gehört in den Bereich Wirtschaftsleben.“

„Zum Beispiel die Tatsache, dass niemand Hunger hat, kann man nicht darauf reduzieren, dass es Unternehmer gibt, sondern die Preise müssen stimmen. Und der einzelne kann nicht wissen, was der andere für einen Preis braucht.“

Ich stöhne scherzhaft über meine Anstrengung, den Gedanken zu folgen, und wir lachen herzlich darüber.

„Ich habe immer wieder damit zu kämpfen, dass ich merke, dass die Leute was mitnehmen und guten Willens sind, aber völlig in eine Richtung geneigt sind. Und ich muss es schaffen aufzufächern, dass es für manche vielleicht nur ein Einstieg gewesen ist und in ihrem Bereich stimmig, aber dass die Dreigliederung weit darüber hinaus geht.“

„Was du mir jetzt gerade beigebracht hast, ist ja eigentlich eine grundlegende Sache.“

„Ja.“

„Verstehen deine Teilnehmer das denn?“

„Ich glaube, dass nach dem Seminar einiges davon angekommen ist, ja.“

„Das ist wahrscheinlich das Nadelöhr, durch das …“

„Ja.“

„… jeder durchgehen muss, bevor überhaupt die ganze Idee ansatzweise bei den Menschen ankommt. Sonst sind es eher noch Vorstellungen.“

„Deswegen brauche ich die vier Tage und kann nicht nur einfach einen Vortrag machen. Es geht jeden Tag viermal eineinhalb Stunden ungefähr. Meistens brauche ich einen Tag, um sie kennenzulernen. Neulich hatte ich eine Gruppe, die Leute haben schon länger gemeinsam meditiert, die haben es geschafft, mir bereits in der Vorrunde alles zu geben, was ich brauche.
Das ist nur einmal so passiert. Sonst kommt es durch die Einwände. Ich sage im Seminar: ‚Jeder, der einen Einwand hat, muss das jetzt formulieren.‘ Denn meine Erfahrung ist, dass die Leute nicht weiter zuhören können, wenn sie Einwände haben.“

„Ja, sie bleiben dann die ganze Zeit daran hängen. Das muss erstmal weg.“

„Das merke ich sofort. Da ist ein Haken. Deswegen kann ich nur Seminare machen. Bei Vorträgen habe ich ein Problem.“

„Ja! Ich meine, dieses Spürende und Wahrnehmende, was du als Kind so stark hattest, hast du ja jetzt auch noch. Ich stelle mir vor, dass du das bei deinen Seminarteilnehmern sehr schnell erfasst.“

„Durch die Gesichter.“

„Und die Gruppe der Meditierenden brachte schon gleich was mit, sodass gar nicht so viel gesprochen werden musste.“

„Sie haben sofort die Kraft gehabt zu sagen, was für Probleme sie mit der Dreigliederung haben. Das ist das, was ich wissen muss. Einer fing an und dann hat der Reihe nach jeder gesagt, wo es hakt.“

„Und dann hast du alles Material, was du brauchst, um die nächsten Tage zu gestalten.“

„Ja. Bei einigen, das ist lustig, kann ich erraten, was sie denken. Ich habe da für eine Person gesprochen, und die hat gesagt ‚Du darfst nicht meine Gedanken lesen!‘"

Sylvain lacht laut. 

„Aber sie hatte so ein Gesicht – das konnte man irgendwie hören!“

„Du kannst es ja öfter mal probieren, dann hast du bestimmt eine Trefferquote von 97 Prozent oder so!“

„Was im Seminar sehr schnell zum Problem wird, ist, dass sie zwar was von mir hören wollen, aber nicht voneinander. Und wenn einer sehr stark zu kämpfen hat mit dem, was ich zu zeigen versuche, und sich die ganze Zeit wehrt, weil ich gesagt habe ‚das muss auf den Teppich‘, dann kann es schnell für die anderen zu viel werden. Dann muss ich am Anfang sagen, dass ich nicht moderieren kann. Ich kann mich nur hineinversetzen in das, was er bringt, und dann muss jemand anderes moderieren, oder sie müssen es untereinander in den Pausen klären. Ich kann mich nicht darauf konzentrieren, ob es den anderen zu viel ist. Sondern ich muss herausfinden, ob es jetzt schon passt, etwas dazu zu bringen, was erst später kommen würde und so weiter. In Unternehmen zu arbeiten ist gut, weil die Leute sich untereinander schon kennen. Es gab ein Treffen, wo sie jemanden rausgeschmissen haben. Das war ihre Entscheidung. Denn die Person wollte nicht zuhören, sondern es als Plattform nutzen, um selber etwas zu sagen, und das haben sie nicht ertragen.“

„Ja. Ich finde es superspannend, das zu erfahren. In dem Buch von Matthias und Alex, das ich lektoriert habe, wurde die soziale Dreigliederung mit dem Menschen verglichen. Mir ist besonders aufgefallen, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen dem Kampf um die existentielle Grundlage mitsamt seinen Folgen und dem Nervensystem. Habe ich das richtig gesagt?“

„Jaa.“

„Wirtschaftlich sicher zu sein, unser großes Ziel. Alle Menschen haben, was sie brauchen, und alle fragen: ‚Was brauchst du?‘ und es funktioniert alles. Keiner leidet Hunger, keiner muss kämpfen … oder Angst haben, ob er seine Kinder morgen noch ernähren kann. Wenn das so schlimm ist, leidet das Nervensystem.“

„Wenn man überlegt, ob das Soziale was Organisches hat, kann man sehr schnell Fragen haben. Wie wirkt sich das Organische vom Menschen auf das Soziale aus? Wie wirkt sich das Soziale auf den Menschen aus? Dann ist es eine äußere Wirkung, die man da sucht. Wo ist eine Ursache für eine Wirkung, hm? Oder man kann nach einem Vergleich suchen. Das hat nichts mit Ursache Wirkung zu tun.“

„Eine Metapher.“

„Es ist eine Ähnlichkeit da. Du hast gefragt, wie das Soziale sich auswirkt auf den einzelnen Menschen. Man muss ganz klar sehen, welche Frage man hat. Alle drei sind berechtigte Fragen, aber die Antwort ist dann immer eine andere. Viele in den Seminaren suchen nach dem, wie der Mensch sich auf das Soziale auswirkt. Denn sie sind so gepolt, dass es um dich geht und um das Individuelle. Während Marxisten eher gucken, wie wirkt sich das Soziale auf den Menschen aus. Aber das ist den meisten fremd – überhaupt die Vorstellung, dass es sowas geben könnte. Sie kommen nicht mit dem Vergleich. Das tut aber Steiner. Er arbeitet nicht mit Ursache Wirkung, sondern mit dem Vergleich des Menschen mit dem Sozialen.“

„Das ist dann schon wieder so ein Nadelöhr.“

„Ja.“

„Man muss erstmal die Begriffe klären, was wer womit eigentlich meint.“

„Ja. Eigentlich benutzt man dieselben Worte, aber man muss erstmal dahinterkommen, was die Person sucht. Das ist auch so ein Punkt, wo es Probleme gibt. Wenn ich merke, dass die Frage stark ist, kann ich diese drei Möglichkeiten mit dem Organismus erklären. Das mache ich also nicht in jedem Seminar.“

„Das klingt für mich so, dass der Mensch selber zunächst einmal erkennen muss, was ihn antreibt, welche Fragen er hat und welche Vorstellungen sich daraus schnell und automatisch ergeben haben, um sich dann bewusst zu werden: Wie entsteht daraus mein Blickwinkel auf die soziale Dreigliederung?.“

„Ja.“

„Das Bewusstsein darüber muss erstmal erarbeitet werden, so kommt mir das jetzt vor, bei jedem einzelnen, bevor die Idee der sozialen Dreigliederung, die du unterrichtest, überhaupt brillenfrei …“

„Ja.“

„… aufgenommen werden kann.“

„Hmh mhh.“

„Und gleichzeitig sind wahrscheinlich die Belange der einzelnen Individuen wichtig, denn die sind ja ein Motiv dafür, dass sie sich dafür interessieren und zum Seminar kommen.“

„Ja. Deswegen ist die Vorstellungsrunde wichtig. Für mich können da viele Sachen kommen, die ich gar nicht kenne. Besonders wenn es sich um Leute handelt, die noch gar nichts oder weniger von der Anthroposophie kennen.“

„Also gibt es die Leute, die über die Anthroposophie zur sozialen Dreigliederung kommen und das Geistige in ihr suchen, obwohl es darum nicht geht, und es gibt die Leute, die vom Sozialen her zur sozialen Dreigliederung kommen.“

„Und da ist es für mich eigentlich fast leichter.“ Sylvain macht eine Pause und lacht dann. „Denn so gehe ich eigentlich selber ran! Ich bin nicht durch die Anthroposophie zum Sozialen gekommen. Sie hat die Form gegeben, wie ich mich damit beschäftige, aber das, was mich zum Sozialen gebracht hat, war das Mitleid.“

„Mitgefühl …“

„Mitgefühl. Das habe ich nicht durch Anthroposophie.“

„Das hattest du vorher.“

„Ja.“

„Es könnte sein, dass das, was du vorher schon hattest, mit dafür zuständig war, dass du zur Anthroposophie gekommen bist.“

„Kann auch sein. Aber ich habe es dort nicht gefunden. Man konnte bei den Leuten kein Mitleid spüren.“

„Nee. Das ist bis heute immer noch so.“

„Ja.“

„Ich habe immer wieder den Eindruck, dass diese Ader im Menschen, das Mitfühlen, auf den anderen zu schauen, dass das dort eher verkümmert ist. Das reine Mitgefühl, nicht das astralisch verunreinigte, sondern das aus dem Herzen, das ist dort oft nicht zu spüren.“

„Was man spüren kann, ist große Offenheit. Das geistige Interesse ist wirklich sehr stark da und auch an sich selber zu arbeiten, das ist also trotzdem beeindruckend. Als die Mauer gefallen ist, habe ich die Kernpunkte der sozialen Dreigliederung gelesen, und hatte überhaupt nicht erwartet, was darin stand. Ich habe eher erwartet: Du musst an dir arbeiten und dann kommt man weiter. So war meine Haltung in dem Moment. Und dann kamen ganz andere Aspekte dazu. Dann war es für mich so, dass ich wieder ganz Zuhause war, nicht nur halb zuhause.“

„Mit dir.“

„Ja.“

„Bei mir war es im Leben die durchgehende Linie: ‚Arbeite an dir. Wenn du erstmal dasunddas an dir bearbeitet hast, wird auch dasunddas im Leben anders sein.‘ ‚Ach, bei dir ist im Leben dasunddas soundso? Dann hast du eben dasunddas Thema noch nicht bearbeitet.‘“

„Das ist dieser Mangel an Mitleid, der so heftig dabei ist.“

„Da ist gar kein Mitgefühl dabei, und es ist so eine modernde Esoterik, eine sehr oberflächliche. Es geht nur mit Mitgefühl. Sonst kann man es gleich wegtun.“

„Ja.“

„Das sagst du grade. Das stimmt. Weißt du, ich habe in meinem Leben viel an mir gearbeitet und dazu alle möglichen Wege unternommen. Sehr sehr intensiv und auch sehr sehr eigenwillig. Der Hammer. Als ich älter war, merkte ich, dass es nicht eins zu eins umsetzbar ist, wie die Leute das sagen. Ich habe gemerkt, dass sich in meiner Wahrnehmung der Welt grundsätzlich was ändern muss. Und dann kam ich zur systemischen Beratung und Therapie. Hast du davon schonmal gehört?“

„Durch meine Frau! Aber nicht so, dass ich das wirklich draufhätte.“

„Aber dann kennst du das. Früher hieß das Familientherapie und die Therapeuten haben ganz stark geforscht, mit Zwei-Wege-Spiegel, haben Theorien entwickelt, Dinge ausprobiert, eine ungeheuer spannende Zeit, kurz gesagt: Mir wurde dadurch sehr bewusst, dass wir nicht nur durch unsere Biographiearbeit, unsere starke Absicht, durch Fleiß, durch den Mut, sich zu konfrontieren, etwas im Leben verändern, sondern dass das Drumherum, das System, wie auch immer wir es in einer konkreten Situation definieren, auch eine Rolle spielt. Nicht alles steht also in unserer Macht, und hier zeigt sich ein versteckter Hochmut: ‚Ich kann dasunddas, wenn ich dasunddas aufarbeite.‘ Das ist nicht so. Die Zusammenhänge mit dem Drumherum sind so wichtig und so stark; und in denen stehen wir drin. Wir haben nicht diese Macht. Wir haben starke Macht; die ergreifen die meisten nicht. Aber diese Macht haben wir nicht. Und das erinnert mich ein bisschen an das, was du sagst. Du fühltest dich ganz, als die soziale Dreigliederung dazu kam. Das ist etwas anderes, als nur an sich zu arbeiten. Du hast ja gesagt, dass du viel an dir gearbeitet hast, was ja viele deiner Schüler auch machen, was ja auch super ist. Aber durch die soziale Dreigliederung wurde es rund, weil all das, mit dem wir verbunden sind, und mit dem wir uns vielleicht besser verbinden könnten, eine so große Rolle spielt.“

„Hmh mhh, ja. Grundsätzlich sagte Steiner, dass es beim Wirtschaftsleben grade um das System gehen wird. An dem System muss man dann arbeiten, während man im Geistesleben eher an sich arbeiten muss. Und diese Polarität müssen wir ertragen … dass beides stimmt.“

„Das ist aber wunderbar!“

„Das System ist viel weiter als wir. Und an dem muss man arbeiten. Steiner sagt, wenn man im Wirtschaftsleben guckt, dass die Struktur schon da ist, merkt man, dass man noch nicht aus ihr gelernt hat. Man ist also noch im Kopf zurückgeblieben. Die Struktur ist schon weiter, dass man eben nur noch für andere arbeitet und andere für einen. Das war früher nicht so; da konnte man sehr viel Selbstversorgung machen. Und jetzt durch die Weltwirtschaft ist alles, was man hat, abhängig von dem, was andere tun. Er sagt, dass das System viel weiter ist, als wir mitkommen, und an dem muss man arbeiten. Da muss ich versuchen, dass die Leute sich umstellen können und nicht relativieren. Nicht dass das eine das andere relativiert.“

„Das aber schwer! Das ist hochanspruchsvoll! Oder? Das ist hochanspruchsvoll. Das ist eigentlich eine Art Weisheitsstudium. Ich bekomme ja jetzt nur ganz kleine Augenblicke mit; die sind wie ein Samenkorn, die du mir gibst, so mächtig, dass ein Riesenbaum daraus werden kann. Aber ich verstehe es ja noch lange nicht.“

„Hm.“

„Aber ich bekomme eine Ahnung davon, wie tief dieses Wissen ist, wie sehr es in den einzelnen Menschen eingreift, und dass es ganz ganz viel mit Weisheit zu tun hat. Mit Weisheit. Diese zwei Nadelöhre, die du mir jetzt genannt hast, wirklich zu begreifen, erfordert Weisheit und vergrößert Weisheit.“

„Hmh mhh. Das Wort benutze ich selten. Das darfst du.“

„Gibt es da ein anthroposophisches Wort für?“

„Weiß ich nicht.“

„Haben wir denselben Begriff, du und ich, von Weisheit?“

„Weiß ich nicht. Bis jetzt habe ich noch keinen. Ich kann von Organismus sprechen. Deshalb habe ich gesagt: Das darfst du sagen.“

„Ach, das ist doch immer so schön, wenn man denselben Begriff hat und sich dann versteht. Die Bodhisattvas und Buddhas sprechen ja von den beiden Flügeln Weisheit und Mitgefühl, was auch die Ritualgegenstände Vajra und Glocke versinnbildlichen. Vajra steht für Mitgefühl und die Glocke für Weisheit. Sie haben eins in jeder Hand, während sie rezitieren, um mit beiden vereint auf die Welt zu blicken. Die Weisheit ist groß und so tief und so allumfassend. Die Konfrontation mit sich selbst, um herauszufinden, welche Erwartungen man an die soziale Dreigliederung hat, was man an Gedanken mitbringt, von wo man kommt, sehe ich darin das Geistesleben oder komme ich vom Sozialen – das muss erstmal bewusst werden!“

„Für mich gibt es fast so eine Art Ironie. Viele denken sehr stark, dass es davon abhängt, was ich aus mir mache. Aber es ist wenig Bewusstsein dafür vorhanden, wie man geprägt worden ist, dadurch dass man meistens vom Bürgertum herkommt. Und nicht nur Reflexe hat, die dadurch kommen, dass man in der Anthroposophie gesucht hat. – Es ist gut, das so zu machen, denn in der Regel findet man etwas anderes, als man gesucht hat. – Aber das Bewusstsein über die Prägung ist sehr gering. Ich habe Glück, denn meine Mutter war Arbeiterin und mein Vater kam aus dem Kleinbürgertum. Mir war die Prägung als Kind auch nicht so bewusst, aber mir wurde mit vierzig fünfundvierzig ein französisches Buch über Soziologie empfohlen, und da habe ich manches wiedererkannt. So merke ich, dass ich nicht ganz in dem Bürgerlichen aufgehe. Da hat sie was zu beigetragen. Im Anthroposophischen gibt es zu wenig Bewusstsein darüber, dass man sich in der Tat doch nicht selber gemacht hat. Sehr vieles sind Gewohnheiten aus einer Klasse.“

„Welche Gewohnheit zum Beispiel?“

„Gerade die, dass es alles auf dich ankommt. Im Bildungsbürgertum haben sie kein Geld gehabt, durch das sie was sein konnten, sondern sie mussten lernen und so weiter, um was zu sein. Dass sie sich nicht davon lösen können, hat auch damit zu tun, dass sie damit groß geworden sind.“

„So tief greift das eigentlich ein …“

„Ja.“

„Wenn man sich wirklich damit beschäftigen will, und nicht nur die Vorstellungen von dem haben will, die man sich permanent bastelt, muss man tatsächlich erstmal erkennen: Was bringe ich mit?“

„Ja. Meine Mutter zum Beispiel hat null Ehrgeiz gehabt für mich, was ich werden soll. Das ist bei den anderen sehr stark.“

„Du musst auch Zahnarzt werden. Oder: Du musst Pianist werden.“

„Ja, genau. Ich bin ohne eine Spur davon groß geworden.“

„Ohne die Erwartung oder den Druck oder die Gefahr, jemanden zu enttäuschen … Das ist ein schöner Luxus, den du da hattest.“

„Da merke ich, dass die meisten davon geprägt sind und es nicht merken.“

„Vielleicht sind es deshalb so viele aus dem Bildungsbürgertum, weil es so viel Akademisches erfordert, den Steiner zu lesen.“

„Jaa, aber nicht die Sachen zur Dreigliederung.“

„Aber die Leute, die zur Dreigliederung kommen, haben ja meistens vorher …“

„Ja, genau. Das heißt, es liegt eher daran, dass diejenigen, die sich mit Dreigliederung beschäftigt haben, nicht imstande waren, so zu reden, dass andere das auch verstehen, die nicht dorther kommen.“

„Es ist schön, dass du das sagst.“

„Ja? Vom Verständnis her ist es viel leichter, die soziale Dreigliederung zu erklären bei Leuten, die nicht daher kommen. Steiner hat die Arbeiter auch sehr gut erreicht.“

„Ich weiß. Es gab Vorträge speziell für die Arbeiter. Er konnte sich sehr sehr gut auf das jeweilige Gegenüber einstellen und sehr anders sprechen, je nach dem, mit wem er es zu tun hatte. Und es wird nicht qualitativ besser, wenn man’s kompliziert ausdrückt. Die Sache an sich ist oft einfach. Und es einfach zu formulieren und zu beschreiben, ist oft genial.“

„Ich finde, dass er komplexe Sätze hatte, aber es nicht komplizierter machte, als es sein muss. Er bringt die Sachen auf den Punkt und hat keinen Moment des Stolzes.“

„Eben! Eben!“

„So kompliziert zu reden, dass es nicht alle verstehen können.“

„Genau! Genau!“

Wir lachen.

„Immer dieses Ego: Ich bin doch ein besserer Professor … Diese ganzen oft nicht bewussten Avancen ‚guck mal wie toll ich bin‘ spielen bei Steiner natürlich überhaupt keine Rolle. Da ist eigentlich kein Wort zu viel. Und auch keins zu wenig. Keins ist angeberisch.“

„Die Leute, die zu mir kommen, kommen meistens aus der Anthroposophie. Wenn man die soziale Dreigliederung über das Anthroposophische hinaus bekannt machen würde, würde es viel mehr Leute erreichen, die nicht über die Anthroposophie erreichbar sind.“

„Und du würdest die Leute erreichen, die das viel einfacher und direkter verstehen.“

„Ja.“

„Weil sie so aufgewachsen sind und den ganzen Überbau nicht haben.“

„Genau.“

„Viele haben einen Überbau, der ist auch nicht so rein, sondern voller Vorstellungen und voller Astralischem, selbstgebaut. Das meiste ist ja nicht aus dem höchsten Ideal, aus der höchsten Sittlichkeit formuliert und gedacht, das ist ja normal, ist ja menschlich. Und Leute, die mit ihren Händen arbeiten, eine Mutter, die näht, ein Handwerker, ein Vater, der die Kühe melkt, die haben vielleicht einen viel einfacheren direkten reineren Zugang als die, die schon so viel gedacht und gelesen haben.“

„Ich bin leider beschränkt auf die Leute, die zu mir kommen und dann entsprechend Sachen mitbringen. Aber für die Dreigliederung wäre es besser, wenn man auch die anspricht, die gar nicht aus der Ecke kommen.“

„Könntest du nicht speziell Leute aus bestimmten Handwerken oder so …“

„Ich kann es nur im Dialog machen. Das heißt, nicht als Seminar oder so. Und auch keinen Vortrag. Aber wenn ich irgendeinen Austausch habe, dann kann ich lange genug zuhören, dass ich weiß, an welcher Seite ich ansetzen kann.“

„Vielleicht könntest du dich spezialisieren auf diese Menschen. Aber dann müssten die Leute von dir wissen.“

„Genau. Aber da habe ich noch keinen Weg gefunden. Aber ich habe zweimal bei einem Unternehmen sprechen können, und die, die dabei die größten Schwierigkeiten hatten, waren die, die mit Anthroposophie zu tun hatten. Im Seminar habe ich nur solche Leute, deswegen kann ich mich drauf einstellen, aber wenn ich in einem anderen Zusammenhang bin, wo andere Sachen möglich wären, dann wird es deutlich!“

Sylvain lacht.

„Ah! Interessant, diese Erfahrung! Es wäre wirklich toll, wenn deine Seminare auch speziell für diese Zielgruppe da sein könnten. Über Vitamin B oder über Werbung.“

„Ein Weg könnte über die Betriebsräte gehen. Ich habe einen Kollegen, der das Jahrzehnte lang begleitet hat und beraten, der hat einen Text geschrieben, in dem er die Dreigliederung darstellt im Anschluss an das Betriebsräte-Gesetz. Ich glaube, die meisten, auch in anthroposophischen Unternehmen, haben nichts mit Anthroposophie zu tun. Das heißt, man könnte es gut dorthin bringen. Bisher ist es noch nicht dazu gekommen, aber ich hoffe. Darauf würde ich mich sehr gern einlassen, denn die zweimal waren sehr …  Das tut gut …“

Die Fortsetzung folgt im nächsten Newsletter:

Teil 3 Seit dem Sozialen muss man im Kreise denken.

Sylvain Coiplet über Arbeit/Bildungsbürgertum/Organismus/Vergleich

von Ulrike Stein

Categories: INITIATIVEN

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