
Die Bewegungen des Lebens
„Oh, sie kann sich ja gar nicht mehr bewegen“, sagten die Leute im Städtchen. „Sie liegt nur noch im Bett. Ihr Mann macht alles für sie.“
Langsam und tief atmend lag sie schon den ganzen Tag auf dem Rücken. Die aufgehende Sonne hatte sich bereits aus dem Fensterrahmen geschoben. Ein Dieselauto fuhr vorbei. Eine Amsel flötete aus Leibeskräften. Sie lauschte allen diesen vertrauten Geräuschen und Tönen nach, während sie sich an die Arie „Mein Jesus soll mein Alles sein“ aus Bachs Kantate „Die Elenden sollen essen“ erinnerte. Jeden Ton, jeden Buchstaben, jeden Atemzug und jede Artikulierung nahm sie wahr. Es vollzog sich wie von selbst und sie war nun nicht mehr davon abhängig, zum Plattenspieler gehen zu müssen.
Die innere Bewegung vertiefte ihre Atemzüge und sie tastete mit einer Hand nach einem Zettelchen auf ihrem Nachttisch. Sie wollte ihren Gedanken festhalten, um ihn später mit ihrem Mann teilen zu können. Es gelang ihr nicht. Mit großer Kraftanstrengung versuchte sie, ihren alten und kranken Körper ein Stückchen mehr auf die Seite zu drehen, um den Abstand zwischen ihrer Hand und dem Notizzettel zu verringern. Nun brauchte sie eine Atempause. Vorsichtig fühlte sie auf dem Tischchen herum und hörte, wie der Stift auf den Boden fiel. Es blieb ihr also nun nichts anderes übrig, als sich den Gedanken zu merken. Dies nahm sie sich vor, mit festem Willen. Es bewegte sie schon immer und bis zum heutigen Tag, einen Austausch mit ihrem Mann zu pflegen, der sie immer verstand, ihr aber nicht immer beipflichtete, und der jedes Mal einen Blickwinkel oder eine Ebene hinzuzog, die sie inspirierte und zum Weiterdenken animierte.
Doch was, wenn sie ihren Gedanken bis dahin vergessen würde?
Sie vergaß doch in letzter Zeit so viel.
„Eine Brücke“, dachte sie, „eine Brücke muss ich mir bauen.“
Sie sank zurück in ihre vorherige Rückenlage und entspannte sich, so gut es ging. Die riesige Autobahnbrücke, unter der sie morgens zur Apotheke hindurchgefahren war, als sie dort noch angestellt war, ob die noch stand? Hatte ihr Arzt nicht neulich erwähnt, dass sie abgerissen werden soll?
Sie hörte die Haustür schnappen und zufallen. Mit bewegtem Atem vom Treppensteigen kam ihr Mann herein und stürmte lächelnd und froh auf sie zu.
„Wie geht es dir? Ist alles in Ordnung?“
„Ja“, erwiderte sie, „die Brücke, die Brücke, mein Jesus soll mein Alles sein”.
Ulrike Stein